…ich packe meinen Koffer, meine Reise ins Ungewisse
…ich packe meinen Koffer, meine Reise ins Ungewisse
Und genau das tat ich vor einigen Wochen. Gespannt auf das, was mich erwarten würde und voll geballter Neugierde, Respekt vor dem Unbekannten, vor den noch nie dagewesenen Momenten, Gefühlen und Motiven.
Am Frankfurter Flughafen trafen wir dann alle zusammen. Was ich da schon spürte, war dieses warme und herzliche Gemeinschaftsgefühl. Sie trafen sich alle nach einem Jahr aus allen Ecken Deutschlands wieder, und freuten sich auf die gemeinsame Arbeit, auch wenn diese bei aller Liebe nichts mit der romantischen Vorstellung vieler Menschen zu tun hat. In Coroatá kamen dann noch die ehrenamtlichen Ärzte, Schwestern und Pfleger aus Brasilien dazu. Was in den nächsten zwei Wochen folgte, war harte körperlich Arbeit: 408 Consultas und 116 Operationen. Operationen im absolutem Grenzbereich des Machbaren, unter den gegebenen Bedingungen. Viele Schicksale, darunter auch einige denen man nicht helfen konnte. Da es keinen Intensivbereich gab, ließen die örtlichen Gegebenheiten manche Operationen nicht zu. 40 Grad ohne einen Luftzug, ein gemeinsamer Schlafraum, mit einer Dusche. Aber all das rückte von Tag zu Tag vor Ort in den Hintergrund, weil es an Bedeutung verlor und der Fokus ganz woanders lag.
Der Flug und die Anreise waren zäh und lang; zum Schluss dann noch die 4-stündige Anfahrt bis zur Klinik im Busch, mit den Knien gefühlt an den Ohren und nur einem Hauch von Klimaanlage, den langen Flug in den Knochen, die Wintersocken bei 40 Grad noch an den Füßen und meinen Fotorucksack immer bei mir: sehr ermüdend. Als wir dann noch angehalten wurden und bewaffnete Soldaten unseren Bus kontrollierten und betraten, wusste ich, dass es hier auch ganz schnell anders laufen kann und Gewalt ein großes und allgegenwärtiges Thema ist.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir an. Auf einem handgeschriebenen Schild las ich „Clinica Sao Daniel“. Ich war müde, absolut durch von der über 30-stündigen Anreise, emotional sehr angreifbar und ich wusste auf einmal nicht, ob ich DAS alles durchhalten könne.
Aber alles war wie wegblasen, als mich Schwester Verônica und ihr Team in den Arm nahmen und begrüßten, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Diese Dankbarkeit und Freude über unsere Ankunft packten mich und mein Herz dann so sehr, dass mir sofort die Tränen in die Augen schossen. Als ich dann sah, was sich draußen vor dem Bus, vor der Klinik abspielte, erwischte mich die geballte Ladung an Eindrücken. Viele Menschen, die schon auf die Hilfe aus Deutschland warteten. Viele Kinder mit Nasen-Gaumenspalten, die dadurch nicht richtig essen konnten, teilweise dadurch verstoßen werden, Menschen mit verkrümmten Händen, Hautverbrennungen, Geschwüren – das komplette Programm. Ich dachte nur: wie und wo fängt man da bitte an. Aber dank eines seit Jahren aufeinander eingespielten Teams war dies die kleinste zu bewältigende Aufgabe.
Als ich im Bad war, um mich mit dem bleistiftzarten Wasserstrahl zu duschen, sprangen mich aus den Ecken Frösche an. Luft anhalten, Ruhe bewahren und jetzt keine Panik. Als dann etwas platschend und weich auf meinem Kopf landete, war es jedoch schwer, die Ruhe zu bewahren. Ruhig betend, dass es hoffentlich nur ein weiterer Frosch sein würde, beugte ich den Kopf vor, und der Frosch hüpfte dankbar in die kleine Pfütze. Vogelspinnen, welche an unsere Zimmertür klopften, ließen mich kurz schneller atmen. Gigantisch große Tiere, mit starken muskulösen Beinen und ganz sicher nicht mit einem Glas und einem Stück Papier in die Freiheit zu befördern. Ich war bereit: meine Woche konnte beginnen. Den Fokus nicht zu verlieren, das hilft mir dann.
Es ging sofort in die Patientenaufnahme, um all die kleinen und großen Patienten in Empfang zu nehmen. Ich blendete alles um mich herum aus, schaute nur durch meinen Kamerasucher, und ließ meine Gedanken, Gefühle und mein Herz wandern. Immer ein gutes Zeichen für mich, denn dann bin ich angekommen und kann mich auf die jeweilige Situation einlassen. Des Öfteren musste ich tief Luft holen und ein kleiner Patient packte mein Herz direkt in den ersten Stunden nach unserer Ankunft. Seine Eltern betraten das provisorisch eingerichtete Sprechzimmer und freuten sich, dass sie den Weg geschafft hatten und die deutschen Ärzte nun endlich ihrem Kind mit einer Operation helfen konnten. Was ich sah, traf mich ungefiltert und mitten ins Herz. Zwei kleine Augen, ein großer Kopf, ein kleiner Körper und einen Nasen-Gaumenspalte. Für seine Eltern war klar: diese Ärzte können ihm helfen. Schwester Verônica und ihr Team übersetzten die ganze Zeit, wie auch die ganzen kommenden Tage. Die Augen der Eltern trafen sich verzweifelt und absolut niedergeschlagen, als Schwester Verônica ihnen mitteilte, dass das Risiko ihn hier zu operieren zu groß sei, und man ihnen daher leider hier nicht helfen könne. Der Blick der Eltern ging zu ihrem Kleinen, der in den Armen seiner Mutter ruhte. Und eine große Welt der Hoffnung brach für sie zusammen; sie wischten sich die Tränen aus dem Gesicht. Wäre er in Deutschland gewesen, hätte man ihm helfen können. Mit diesem Gedanken und dieser Gewissheit entstand ein schweres Schweigen im Raum, ein Schlucken seitens der Ärzte, ein tiefes Luftholen, und ich musste erst mal raus. Zuviel für diesen Moment. Wie hält man es aus, in einem solchen Moment nicht helfen zu können?
Die ersten Fotos im OP standen an. Ich war für alles bereit. Kopfkino aus und durch. Und ich war echt verwundert über mich selbst, nach all den anfänglichen Zweifeln, ob ich blutige tiefe Wunden ertragen könne. Ich fand es spannend, alles über gewisse Operationstechniken zu erfahren, offene Hände zu sehen, Knochen, Sehnen, Skalpell und Faden wurden zu meinen Begleitern während der nächsten Tage, ebenso wie die vielen wartenden Menschen. Zwischen den OPs erkundete ich das Klinikgelände, besuchte Familien in ihren Krankenzimmern, spielte mit den Kleinen Verstecken. Man muss nicht immer eine Sprache sprechen, meist bringen ein warmes Lachen und eine wilde Mimik einen schon weiter.
Der Alltag für das Team: zwei OP-Tische, denn es wurde stets parallel operiert, von 8:00 bis 18:00 Uhr, inklusive anschließender Visite. Durch meine Kamera bekam ich mit, wie diese Arbeit Tag für Tag immer mehr an die Substanz ging. Gebeugte Haltung, hohe Temperaturen, der Wunsch, vielen Menschen in den zwei Wochen helfen zu können. Von Kiefer-Gaumenspalten-Operationen, bis hin zur Entfernung von Wucherungen und überflüssigen Gliedmaßen, Haut-Transplantationen. Wie bei einer Frau, die in ihrem Haus überfallen wurde, ausgeraubt, mit sieben Messerstichen niedergestochen und im Anschluss daran in ihrem Haus angezündet wurde. Ich war so fassungslos. In Brasilien ist die Kriminalität sehr hoch. Unsere Blicke begegneten sich, und sie strahlte mich an und wollte ein Foto. Ich besuchte sie nun öfter, und jedes Mal posierte sie für meine Kamera und schmiss mir lachend Küsse in die Kamera. Woher nahm sie diesen Überlebensmut, diese Freude, nach dem was ihr zugestoßen war?
Wenn ich mich mit Verônica und Renata unterhielt, konnte ich gar nicht genug über ihren Werdegang und ihr Tun erfahren. Für mich hat Kirche hier in Croata eine ganz neue Bedeutung bekommen, was mir zugleich einen neuen Blickwinkel ermöglicht hat.
Sie fahren jeden Morgen mit ihrem Mofa zu den Armen und Kranken und versorgen sie, da es sonst niemand tun würde und sie sich die Medikamente und Verbandmaterialien nicht leisten könnten. Durch Spenden kann u.a. diese Hilfe finanziert werden. Sie bringen Medikamente, sind zuständig für die Wundversorgung, leisten seelischen Beistand, versorgen sie mit ein wenig Nahrung und Kleidung. Die Nonnen wohnen zusammen in einer 4er WG in Croata. Die Arbeit der Nonnen ist für mich geballte Nächstenliebe und bedeutet für mich Christ sein. Durch die der Kirche in Deutschland anhaftende Schwere und den auferlegten Gehorsam habe ich mich sehr von ihr entfernt. Aber dank der von Verônica und ihrem Team gelebten Nächstenliebe vor Ort erfuhr meine bisherige Sichtweise eine Kehrtwende. Eine solche Warmherzigkeit und Fürsorge für die ärmsten der Armen ist mir lange nicht mehr begegnet.
Als ich Verônica von Indien erzählte, und von meinen Plänen für 2017, leuchteten ihre Augen und sie hielt ihre Hände an ihr Herz und erzählte mir, dass sie das Buch von Mutter Teresa verschlungen hätte und ihr Indien und die Arbeit dort so nahe gegangen wären. Mutter Teresa und ihre Arbeit wären ein Vorbild für sie. Die Nonnen – was für warmherzige Herzensöffner vor Ort: ich habe vollen Respekt gegenüber ihrer Arbeit, ihrer Berufung, Tag für Tag mit den wenigen Mitteln, welche sie haben, das Unmögliche möglich zu machen.
Die Woche verging wie im Flug. Der Abend endete für alle todmüde um 22:00 Uhr. Geschützt durch Moskitonetze und gekühlt von surrenden Ventilatoren schliefen wir jeden Abend geschafft ein. Morgens um 05:00 Uhr hörte man schon die ersten Patienten unter dem Fenster ihre Plätze in der Warteschlange zum Sprechzimmer einnehmen. So vergingen die Tage. Viele Menschen, viele Geschichten, viele Schicksale, viele tiefe, berührende Momente und ein Team um mich herum, das ich nur bewundern kann. Sie arbeiten Hand in Hand, jeder weiß wo sein Platz ist, kein böses Wort, viel Respekt füreinander, blindes Verständnis, und all das zusammen lässt sie gemeinsam 2 Wochen lang eine großartige Arbeit vollbringen: bei einigen schon seit 20 Jahren, jedes Jahr aufs Neue. Ich hatte das Gefühl, dass sie diese Kraft zusammenschweißt, was ihnen die Energie verleiht, alles zu geben. Jedes Teammitglied könnte unterschiedlicher nicht sein, mit einer ganz eigenen Geschichte, warum sie dieses Projekt unterstützen, obwohl sie auch am Strand liegen könnten, mit einem Cocktail in der Hand, oder mit ihren Familien ein paar entspannte Tagen genießen könnten. Es packt einen, diese Geschichten lassen einen nicht los. Was sind zwei Wochen, wenn man am Ende sieht, was man als Team, als Einzelner, bewirken kann. Menschen wieder ein positives Lebensgefühl zu geben, Selbstvertrauen zu schenken, helfen zu können. Diese Menschen vor Ort sind so dankbar. Da sie nicht viel haben, aber wissen, dass das Team gern Mangos isst, bringen sie diese mit.
Mir hat es mal wieder gezeigt, in unserer Welt haben wir so viel, nehmen so viele Dinge als selbstverständlich an. Hilfe wird an jeder Ecke benötigt und wenn es das Altenheim im Viertel ist, wo vielleicht ein älterer Mensch sitzt, keine Angehörigen hat und zu Weihnachten kein persönliches Geschenk bekommt. Oder der Obdachlose, der an der Ecke sitzt und bettelt, vielleicht nicht, weil er zu faul ist um zu arbeiten, sondern weil er einfach nicht arbeiten kann, durch Abhängigkeiten, Behinderung, psychische Probleme. Es gibt so viele Möglichkeiten, und man wird fündig, wenn man dafür bereit ist und nicht die Augen vor diesen Situationen verschließt. Man muss einfach nur mal anfangen. Wir haben es alle ein wenig in der Hand, zu teilen, aufmerksam zu sein für hilfsbedürftige Menschen oder Situationen, das Herz ein wenig zu öffnen – es tut gut! Und geben muss nicht immer bedeuten, Geld in die Hand zu nehmen, denn es gibt so viele Möglichkeiten.
Ich danke euch, liebes Team Coroatá, dass ich euch begleiten durfte, euch auf die Pelle rücken durfte, ganz nah dran und mitten im Geschehen, dass ich mit meinen vielen Fragen, die alle beantwortet wurden, dabei sein durfte. Eure Geschichten haben mich berührt und eure Arbeit hat mir gezeigt, dass es sie noch gibt, diese Menschen, die durch ihr Tun andere Menschen und ihr Leben glücklicher machen, Hilfe leisten, da wo es sonst keine geben würde. Danke. Mich und meine Arbeit habt ihr ein großes Stück weitergebracht, indem ich teilhaben durfte.
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